Früher war’s so viel schöner.

An der Loorenstrasse steigt eine ältere Frau in den Bus, hält sich mit zitternden und doch starken Armen am Sitz fest und stemmt sich hoch, bevor das Fahrzeug wieder in Bewegung kommt. Neben ihr sitzt eine dünne, langbeinige Dame, ebenfalls um die 80 Jahre alt, und fragt mit der Hand vor der Maske: „Kann ich ihnen helfen?“ - „Schon gut“, antwortet die neue Passagierin, „Danke!“. „Einfacher wird’s auch nicht mehr, in unserem Alter“, lacht ihr gegenüber, „obwohl, sie sehen doch noch einiges jünger aus als ich.“ - „Na da wär ich mir nicht sicher!“ - „Oh, na. Darf ich nach ihrem Jahrgang fragen?“ Die Dame hält noch immer die Hand vor ihr von der Maske verdeckten Mund. „Neunzehnzweiundreissig.“ - „Ha! Wusst’ ich’s doch! Neunzehndreissig ist der meine!“ Die Damen lachen. Darauf folgt Stille, und beide betrachten die vorbeiziehenden Bäume und Felder. Nach ein paar Minuten dreht sich die eine Dame zu ihrer Sitznachbarin. „Früher war’s schöner, nicht?“ - „Oh. ja.“, antwortet sie mit einem lächeln, „Früher war’s so viel schöner.“

Ich schaue von meinem Smartphone auf und an mir herunter. Meine Kopfhörer spielen Musik ab, doch ich höre sie nicht. Meine „Sozialen Netzwerke“ sind offen :„Sie sind auf dem neusten Stand“. Der Kaffee in meinem Becher ist kalt. „Früher war’s so viel schöner …“

So viele meiner Freunde fühlen eine Nostalgie für eine Zeit die sie nicht kannten. Wir kaufen Analogkameras und Plattenspieler. Kleidung, die wir „retro“ nennen. Durch materielles Gut und allem voran der Selbstdarstellung auf Medien die mit selbstdarstellenden Nutzern Geld verdienen, versuchen wir, eine Zeit zu leben, die wir so knapp verpasst haben. Wir konzipieren visuelle Realitäten eines Lebens, das wir zu leben hoffen, anstatt das Leben zu leben. Und so lieben wir das Analoge des Lebens wegen. Ein Foto zu machen. Es entwickeln zu lassen. Auf die Abzüge warten, in der Hoffnung, dass sie was geworden sind, und im Wissen, dass sie einzig zeigen, was sie zeigen. Die Schallplatte aus der Hülle zu nehmen. Die Abdeckung öffnen, die Nadel auf die äusserste Rille legen, das Rauschen zu hören, die ersten Takte des ersten Liedes, dann des zweiten. Hinhören, vom Beginn bis zum Schluss. Jetzt. Die Jacke des Vaters tragen, den Schal der Mutter, nicht für eine Story, nur um sich verbunden zu fühlen. Jetzt. Das ist das Gegenteil von Schnell. Das Gegenteil von virtuell. Jetzt, eine kleine Oase in der Schnelllebigkeit der heutigen Zeit.

Plötzlich steht die Zeit still. Eine Pandemie wird ausgerufen. Milliarden von Menschen wissen nicht, was passiert. Milliarden von Menschen sagen etwas, Milliarden von Menschen hören zu. Ich lese Zeitungen, ich höre Radio. Scrolle durch meine Feeds. Meinungen formen sich.  Und so unterschiedlich die Wahrnehmungen der Menschen sind, so unterschiedlich sind die Realitäten, so unterschiedlich die Meinungen. 

Die Welt macht Lärm. Der Kopf tut weh. Ich tausche mich mit Freunden aus. Haben sie auch Angst? Vor Kontrollverlust, vor der Zukunft, vor dem Ungewissen? „Komm schon, alles halb so schlimm hier.. Zieh einfach die Maske an und sei vorsichtig. Dann können wir nächsten Sommer wieder auf Festivals.“ Der Mensch liebt das Gefühl, alles kontrollieren zu können. Alles kontrollieren zu müssen. Und er fürchtet nichts mehr als den Verlust eben dieser Kontrolle.

Ich auch. Fürchte den Kontrollverlust. Das Atmen fällt mir schwer. Ich bin panisch. Ich denke. Kann irgendjemand wissen, was tatsächlich abgeht? Kann irgendjemand etwas hören, bei all den Stimmen, all den Geräuschen, all dem Lärm? Meine Hände zittern. Wer kontrolliert denn, welche Stimmen gehört werden? Wer hat die Kontrolle, wenn wir sie nicht haben? Wem gehören all die Stimmen, all die Meinungen? Menschen protestieren, konvertieren Angst in Hass aufeinander. Wellen dieser Angst und Wellen aus Informationen brechen kraftvoll und laut. Panik. Ich schliesse die Augen und atme. 

Ein. 

Aus. 

Ich wate durch das schwarze Gewässer an Angst und entscheide mich. Jetzt. Ich halte den Atem an, und tauche ab. Tiefer, und tiefer. In absoluter Dunkelheit ertaste ich eine Tür. Ich öffne sie, und trete ins trockene. Ein warmes Feuer prasselt im Kamin. Der Lärm wird leiser. Die Geräusche sind unwichtig. Ich wasche mich, ziehe warme, wohlriechende Kleidung an und atme. 

Ein.

Aus. 

Von aussen poltert es an der Tür. Sie rüttelt. Angst lässt nicht gern locker. Ich Atme. 

Ein. 

Aus. 

Ich trete ans Feuer. Fühle meine Kraft. Unscheinbar, und doch mächtig, warm und schwer. Unkontrolliert, sicher. 

„Klusplatz, bitte alle aussteigen:“ Die alten Damen helfen sich gegenseitig nach draussen, lächelnd und über alltägliches redend, die Stärke und das Glück aus dem Innern unerschüttert. Ich bleib sitzen. Früher war’s so viel schöner. 

Wir sind alle so fokussiert darauf, beachtet zu werden, dass wir vergessen, wem und was wir unsere Beachtung schenken. Wir sind so auf Konsum fokussiert, dass wir vergessen, zu kreieren. Und wir sind so auf das Aussen fokussiert, dass wir unser Inneres vergessen. Dabei liegt da die Kraft. Die Quelle, aus der alles entsteht. Die Liebe. Das Leben. Das Jetzt, welches das „Früher“ von morgen ist. Die Angst, der Tod, das „alles gleichzeitig und zwar schnell“, finden sich im Aussen, nicht nicht im Innern. 

Von Innen kann ich nach aussen leben, von aussen nach innen kann ich nur sterben. 

Ich schaue aus dem Fenster. Sehe Häuser an mir vorbeiziehen. Wälder und Bäume, seid Jahrzehnten den Witterungen standhaltend. Felder, Wanderwege, auf denen Menschen ihre Hunde spazieren führen. Meine Kopfhörer hängen stumm um meinen Hals. Ich höre die langsame Beschleunigung des Busses. In meinem Kopf formt sich eine altbekannte Melodie. „Oh baby, baby it’s a wild world…“  Der Kaffee in meinem Becher ist kalt, die Netzwerke auf meinem Smartphone irrelevant. Ich nehme einen Schluck und lächle. „Jetzt ist’s so viel schöner.“

February 2021, published in Moment X Magazine

Angela Kuhn